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„E pluribus unum“ – Die Handschriften der Hofschule Karls des Großen auf dem Weg zum UNESCO-Welterbe?

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von Michael Embach (Stadtbibliothek Trier)


Es ist eine bedeutende Initiative, die sich im gesamteuropäischen Kontext als ein „projet franco-allemand“ etabliert hat und die große Ziele verfolgt: die Erhebung der Handschriften aus der Hofschule Kaiser Karls des Großen in den Status des Weltdokumentenerbes der UNESCO („Memory of the World“).

Das Korpus der karolingischen Hofschule besteht aus acht vollständigen Handschriften und einem Fragment. Die prachtvollen Kodizes und ihre Einbände sind heute über die großen  Häuser Europas zerstreut. Neben den Nationalbibliotheken von Frankreich, England, Österreich und Rumänien sind die Biblioteca Apostolica Vaticana, der Louvre sowie die Stadtbibliotheken von Abbeville (Picardie) und Trier im Besitz von Handschriften der Hofschule oder Teilen daraus. Eine besonders dichte Überlieferung findet sich in Frankreich. Hier liegen mit dem „Godescalc-Evangelistar“, dem „Evangeliar aus St.-Martin-des-Champs“, dem „Evangeliar aus Centula“ und dem „Evangeliar aus St. Médard in Soissons“ gleich vier Handschriften. Aus dem Kreise der übrigen Kodizes springt das  „Lorscher Evangeliar“ ins Auge. Bedingt durch die Wechselfälle der Überlieferung wurde es in zwei Bände aufgeteilt. Während die Evangelien des Matthäus und Markus nach Alba Iulia (Rumänien) gelangten, liegen die Evangelien des Lukas und Johannes im Vatikan. Die Elfenbeintafeln und Buchdeckel wiederum sind auf die Vatikanischen Museen und das Victor and Albert Museum in London verteilt. Aber nicht nur das „Lorscher Evangeliar“, auch die anderen Handschriften der Hofschule haben „ihre“ Geschichte. Man staunt, dass 1.200 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so viele Stücke vorhanden sind, wenn auch im Modus  einer europaweiten Dislozierung.

Jedes einzelne Produkt der geheimnisumwitterten Werkstatt kann die höchste Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Es handelt sich um Referenzobjekte von repräsentativem Charakter. Blitzlichtartig vermögen die Handschriften der Hofschule aufzuzeigen, welchen Stand die Kunst und Kultur in der Zeit um 800 erreichen konnte. In ihrer Gesamtheit spiegeln sie eine kulturelle Leistung wider, die ihresgleichen sucht. In der vorausliegenden merowingischen Epoche waren die kontinentalen Skriptorien nicht annähernd in der Lage gewesen, das künstlerische Niveau der Hofschule zu erreichen. Zudem lag die Produktion der Handschriften zu dieser Zeit in Händen der Klöster. Plötzlich wird nun ein weltlicher Hof aktiv und schwingt sich zum pulsierenden Zentrum eines herausragenden Kunstschaffens auf. Wie kein anderes Produkt gelten die Handschriften der Hofschule als künstlerischer Ausdruck der karolingischen Renaissance. Durch die Rezeption römischer, byzantinischer und insularer Einflüsse erzeugen sie eine Stilhaltung, die in ihrem  grandiosen Auftritt von vornherein einen generalisierten, transnationalen Anspruch erhebt. Bis heute ist dieser Geltungsanspruch zu spüren und erzeugt eine Aura überzeitlicher, kategorialer Bedeutung.

Über einen Zeitraum von etwa 40 Jahren hinweg vermochte die Hofschule Karls des Großen ihren stilprägenden Einfluss aufrechtzuerhalten. Schriftkünstler, Miniaturisten, Elfenbeinschnitzer und Goldschmiede vereinigten ihr Können, um einen Status zu erreichen, der zuvor undenkbar erschien. Bereits der verschwenderische Reichtum der Ausstattung spricht für sich: Großformatige Anlage, die Verwendung von Goldtinte und Purpur, Einbände aus Elfenbein oder kostbaren Metallen, all dies unterstreicht den imperialen, geradezu hieratischen Anspruch der einzelnen Stücke.

Stadtbibliothek Trier, Hs. 22 (Ada-Evangeliar)

Zusammengehalten wird die Produktion der Hofschule vom Kaiser selbst. Zum ersten Mal seit der römischen Antike ist es wieder ein weltlicher Herrscher, der als Auftraggeber und Stifter derartig hochrangiger Kunstwerke in Erscheinung tritt. Demonstrativ stellt Karl der Große sich in die Tradition der römischen Kaiser. Das von ihm propagierte Modell der Herrschaftslegitimation greift zurück auf den Topos der „Translatio imperii“, der rechtmäßigen Übertragung der Macht von den Römern auf die Franken. Nicht nur im Bereich von Politik und Bildung, auch im Bereich von Kunst und Kultur wird dieser Topos herbeizitiert und anhand der Hofschul-Handschriften auf manifeste Weise vergegenständlicht. Nicht umsonst ließ Karl der Große sich am Hof von Aachen als „novus Constantinus“ titulieren und nicht umsonst erscheint auf dem elfenbeinernen Einband des „Lorscher Evangeliars“ das konstantinische Motiv des „Sol invictus“. Hierzu passt, dass der Einband des „Ada-Evangeliars“ einen spätrömischen Stein mit einer Darstellung der Familie Kaiser Konstantins zeigt. Und selbst die in allen Evangeliaren der Hofschule vorhandenen  Darstellungen der vier Evangelisten greifen auf das antike Modell der römischen  Kaiserporträts zurück.

Entstehungsgeschichtlich fällt das Korpus der Hofschule in die Zeitspanne 780 bis 820. Mit dem Tode des Kaisers (814) erlischt die Produktion, ein deutliches Zeichen für die  personenzentrierte Ausrichtung dieser Kunst. In letzter Konsequenz bildet Karl der Große  selbst das Gravitationszentrum der Hofschule. In der Regel war es der Herrscher, der die Aufträge erteilte und die Künstler an sich band, der für die Übermittlung an bedeutende Widmungsträger sorgte und der die Mittel für die Herstellung der Handschriften zur Verfügung stellte. Der „Dagulf-Psalter“ etwa wurde von Karl dem Großen als ein Geschenk für Papst Hadrian I. (772-795) in Auftrag gegeben. Anlass war die vom Papst im Jahre 781 vorgenommene Taufe von Karls Sohn Karlmann in Rom. Nur weil der Papst vor der geplanten Überreichung verstarb, verblieb die Handschrift im Besitz des Hofes. In bewusster Anknüpfung an die römische Taufe Karlmanns wurde der vermutlich seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich liegende Kodex 1811 Kaiser Napoleon Bonaparte überreicht. Auch hier war der Anlass eine Taufe, diesmal jene von Napoleons Sohn Franz Bonaparte (1811-1832), des späteren Königs von Rom.

Vielleicht bringt der Begriff des „Style Charlemagne“ die eigentümlich herrscherzentrierte Art dieser Form von Kunst am besten zum Ausdruck. Und es scheint nicht fernliegend, zumindest auf dem Gebiet der Kultur Karl den Großen tatsächlich als den „Vater Europas“ zu betrachten.

Stadtbibliothek Trier, Hs. 22 (Ada-Evangeliar)

Blickt man auf die Inhalte der Handschriften, so zeigt sich eine völlige Dominanz der kirchlichen Sphäre. Erhalten haben sich ein Psalter, ein Evangelistar und eine Reihe von  Evangeliaren. Auch dies war kein Zufall. Karl der Große als der vom Papst gekrönte „miles christianus“ hat sich immer als Sachwalter der Kirche verstanden, nicht nur in den über nahezu 30 Jahre hinweg geführten Sachsenkriegen. Der sakrale Anspruch seiner  Herrschaftsauffassung manifestiert sich ebenso in den feinsinnigen Produkten der Hofschule wie in den brutalen Schlachten, die der Kaiser führte.  Dabei zeigt ein Blick auf die Textfassungen der Handschriften, wie ambitioniert die Hofschule auch auf diesem Felde vorging. Sehr deutlich äußert sich der  Einfluss, den Alkuin, Theodulf von Orléans, Petrus von Pisa und andere Mitglieder des internationalen Gelehrtenkreises am Hofe auf die Erneuerung der christlich-lateinischen Bildung im fränkischen Reich nahmen. Die Ideale der „Correctio“ und „Renovatio“, der verbesserten und erneuerten Bildung,  schlagen nicht nur im Bereich von Schrift, Recht, Liturgie und Kirchengesang durch, sie gelten auch für die Textgestaltung der Bibel. Richtschnur und leuchtendes Vorbild für all diese Bemühungen war die Kirche von Rom. Sie galt am fränkischen Hof als Hort der authentischen Überlieferung, sowohl für die Bereiche des gregorianischen Gesangs, des Kirchenrechts und der „Regula Benedicti“ wie auch für den Text der Bibel. Die „Vulgata“ des Kirchenvaters Hieronymus ist es, die vom Hofe Karls des Großen aus in sprachlich und orthographisch gereinigter Form als normsetzendes Muster über das gesamte Reich hinweg verbreitet wurde.

Ungeachtet des Glanzes, den die Hofschule verbreitete, liegt Vieles im Wirken dieses exzellenten Kreises von Künstlern und Gelehrten bis heute in einem kaum zu erhellenden Dunkel. So lässt sich lediglich vermuten, dass der Sitz der Hofschule zunächst in Worms lag. Bedingt durch einen Brand der Wormser Königspfalz an Weihnachten 790 scheint sich das Zentrum von dort nach Aachen verlagert zu haben. Und aus dem Kreis der beteiligten Künstler sind uns lediglich Dagulf und Godescalc mit Namen bekannt. Die große Mehrheit der hoch talentierten Meister verschwindet hinter den von ihnen geschaffenen Artefakten. Letztendlich fällt auf, dass die Handschriften der Hofschule keine kompletten Bildfolgen zum Leben Jesu enthalten. Ob dieser tendenzielle „Ikonoklasmus“ mit dem Frankfurter Konzil von 794 zusammenhängt, bei dem es um eine Stellungnahme zum byzantinischen Bilderstreit ging, bliebe zu untersuchen. Auffällig ist jedenfalls, dass die  um 1.000 entstandenen ottonischen Bilderhandschriften nach Art des „Codex Egberti“ umfangreiche christologische Zyklen enthalten.

Die UNESCO-Initiative zu den Handschriften der karolingischen Hofschule versteht sich als ein internationales Gemeinschaftsprojekt kulturtragender Institutionen ganz Europas. Sie wird von der überwiegenden Zahl der besitzenden Institutionen mitgetragen. Ziel ist es, einen bedeutenden Teil des europäischen Kulturerbes unter den Schutz der UNESCO zu stellen und zugleich den Blick der Öffentlichkeit für die Bedeutung dieses kulturellen Erbes zu schärfen. Im Falle einer positiven Bewertung des Antrags erwartet die UNESCO von den besitzenden Institutionen eine Digitalisierung der Handschriften. Etwa 1.200 Jahre nach seiner Entstehung würde das Korpus der Hofschule Kaiser Karls des Großen damit wieder als eine in sich geschlossene Einheit in Erscheinung treten – zwar nicht im physischen  Original, wohl aber im digitalen Substitut. Die Entscheidung der UNESCO wird für das Jahr 2020 erwartet.

Es bliebe darauf hinzuweisen, dass im Herbst dieses Jahres eine von der Stadtbibliothek Trier (Michael Embach) und der Universität Trier (Claudine Moulin) gemeinsam organisierte internationale Tagung stattfindet, die das Thema der karolingischen Hofschule in umfassender Weise beleuchtet. „Die Handschriften der Hofschule Kaiser Karls des Großen – individuelle Gestalt und europäisches Kulturerbe“, so  der Titel der Veranstaltung (Stadtbibliothek Trier, Weberbach 25, 54290. 10.-12. Oktober 2018). Die Adresse der Homepage lautet: https://courtschool.eu.


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